Der alte Hans und seine Burg.


Am Hang einer Burgruine lebte einst ein alter Mann in einem kleinen Holzhaus. Er war sehr traurig. Er hatte durch einen tragischen Unglücksfall seine ganze Familie verloren und fühlte sich seitdem sehr einsam. Ab und an ging er ins Dorf zum Einkaufen und wurde auch schon des öfteren von freundlichen Bewohnern, wenn sie ihn durch die Straßen gehen sahen, zum Essen eingeladen.

Jeden Abend machte er einen langen Spaziergang in seine Umgebung, bei denen immer wieder schöne alte Erinnerungen wach wurden. Doch wenn er nach Hause kam, wurde ihm seine Trostlosigkeit mit einem Schlag bewusst. Dort warteten jedoch schon seine vielen streunenden Katzen, denn nicht nur der Hunger trieb sie zu ihm, sondern auch sein liebevolles Streicheln. Von überall her vernahm er freudige Vogelgesänge und sogar Tiere aus Wald und Flur kamen zum Futterplatz neben seiner Hütte. Er sprach laut mit ihnen und mit der Zeit hatte er den Eindruck, dass sie ihn verstanden, was ihm half, den Schmerz seiner Einsamkeit zu lindern.

Eines Morgens, als er am Tisch saß und heißen Kaffee schlürfte, kam ihm eine Idee, wie er etwas mehr Freude in sein Leben bringen könnte. So nahm er seinen kunstvoll geschnitzten Stock und kletterte bedächtig den steinigen unwegsamen Pfad zur alten Burg hinauf. Derweil erinnerte er sich an alte Bücher, in denen das damalige Burgleben mit schönen anmutigen Burgfräuleins und edlen Rittern beschrieben wurde. Auf einer Anhöhe, von der er die ganze Gegend überschauen konnte, blieb er stehen und sagte leise vor sich hin:
„Hier würde ich gerne wohnen!“.

Während er, auf einer zerfallenden Mauer sitzend, weiteren Gedanken nachging, sah er im Licht der Mittagssonne einige seiner vertrauten Tiere den Abhang heraufkommen.
„Bald werden wir hier alle zusammen wohnen!“, rief er ihnen begeistert entgegen.
Sofort erhob er sich zu einem Rundgang durchs alte Gemäuer, und die Tierschar schlich hinter ihm her, vorbei an neugierigen Vögeln, die solche Besucher hier oben nicht kannten.

Nachdem der alte Mann Winkel und Ecken erkundet hatte, entdeckte er plötzlich einen schmalen Treppenaufgang und stieg erwartungsvoll, aber sehr mühsam, hinauf. Die ausgetretenen Steinstufen endeten in einem kleinen Raum, in dem er sich verwundert umschaute. Er befand sich nun in einem kleinen Turm, der noch einigermaßen gut erhalten war. Sein Blick fiel sofort auf ein großes aus Stein behauenes filigranes Fenster. Mit ein paar eiligen Schritten trat er hinzu, beugte sich vorsichtig hinaus und sah auf einen blauen Himmel mit weißen langsam dahinziehenden Wolken. Dann, nach unten schauend, auf das Grün von Wäldern und Wiesen. In diesem kurzem Moment entflammte ein wunderbares Gefühl in ihm, das ihn übermütig werden ließ. Er ging wieder einige Schritte in den Raum zurück und fing an, sich wild im Kreise zu drehen, immer schneller und schneller, was zur Folge hatte, dass er sich am Boden liegend wiederfand. Erneut schaute er hoch zum Fenster und rief laut schallend durchs Gemäuer:
„ Ab heute bin ich Ritter Hans und bleibe bis an mein Lebensende hier!“.

Seine Tiere hörten die vertraute Stimme und wer konnte, sauste zum Turm hinauf. Als sie ihren Freund am Boden liegen sahen, berochen und stupsten sie ihn von allen Seiten und sofort erhob er sich, streckte sich und sagte mit fester Stimme:
„Seht her, das ist mein neues Zuhause. Ihr könnt in all den anderen Räumen wohnen!“.
Dann stieg er die Treppen hinunter und seine tierischen Freunde folgten ihm.

Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg zum Rathaus, denn er wollte sich beim Bürgermeister nach Möglichkeiten erkunden, in der alten Burg wohnen zu dürfen. Selbstverständlich wurde eine Lösung gefunden und dazu noch gute Wünsche für seine neue Bleibe auf der Burg als „Ritter Hans“.
Schnell sprach es sich im Ort herum, dass er ab sofort in der alten Burg wohnen könne. Dorfbewohner schleppten verschiedene Gegenstände bis in den Turm, darunter ein wunderschönes altes Bett mit dicken neuen Kissen und warmen Decken, einen massiven Holztisch mit Stuhl und einen knallroten großen Ohrensessel.
Eine der Frauen hatte einen schweren roten Vorhangstoff über ihrem Arm liegen und wusste nicht so recht, was sie damit anfangen sollte.
„Hänge ihn übers Fenster, dann sieht es wie früher aus!“, rief ihr eine andere zu.
Spontan machten Männer sich daran, eine mitgebrachte Holzstange über dem Fenster zu befestigen. Schwungvoll wurde der Stoff darüber gehängt und ein Raunen der Begeisterung ging durch den Raum.
„So Ritter Hans, das ist nun dein Reich und morgen setzen wir dir noch eine alte Butzenscheibe ein, mauern dir einen Schornstein und bringen auch einen kleinen Ofen mit“, sagte einer der Männer und alle stiegen die steilen Treppen langsam hinunter.
„Wir besuchen dich bald wieder, denn es fehlt hier noch eine Tür am Treppenaufgang!“, bemerkte eine Frau während sie die Stufen im Auge behielt.
Hocherfreut schob er nun den schönen roten Sessel vor das Fenster und schwelgte in Glückseligkeit. Es dauerte nicht lange, da flogen schon seine Vogelfreunde herbei und pickten die mitgebrachten Krümel, die stets gefüllt in einem kleinen Beutel an seinem Gürtel hingen, von der Fensterbank.
Oft kamen auch die Kinder aus dem Dorf zu ihm auf die Burg, denn von seinen immer neuen fantasievollen Burggeschichten waren alle begeistert. In stürmischen Nächten, wenn der Wind um seinen kleinen Turm heulte, erdachte er sich ungewöhnliche Geschichten, die er am Morgen in ein Büchlein schrieb und mit einem leichten Schmunzeln unter sein Kopfkissen steckte.
So lebte „Ritter Hans“ glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende auf der alten Burg.


© Heidrun Gemähling