Stern der Fröhlichkeit.


(2008)

Wie jeden Abend zog der kleine Jan die Gardine am runden Dachfenster zur Seite und legte sein Fernrohr, das ihm Onkel Kapitän vor langer Zeit geschenkt hatte, auf das blaue kleine Extrakissen neben sich. Mit einem dicken Band hatte er es am oberen rechten Bettpfosten befestigt, um sicher zu gehen, dass es nachts nicht hinunterfallen konnte. Er hegte seit langem den sehnlichen Wunsch, auch selber den „Stern der Fröhlichkeit“ zu entdecken, von dem der Onkel so oft erzählte, während die Matrosen an Deck sangen, weil sie sich vor der stürmischen dunklen Nacht fürchteten, suchte der Kapitän mit dem Fernrohr nach dem Stern. Hatte er ihn dann gefunden, legte er sich in die Koje und schlief froh ein.

Bei diesen Gedanken sprang der kleine Junge schwungvoll ins Bett und rief nach der Mutter, die sich auf die Bettkante setzte, um ihm noch eine Geschichte vorzulesen.

„Gute Nacht und schlaf schön!“ Sie küsste ihren Jungen liebevoll auf die Stirn.
„Ich werde heute Nacht nicht schlafen, denn Onkel Kapitän kommt bald von der Reise zurück und ich habe immer noch nicht den Stern der Fröhlichkeit gefunden!“, sagte Jan und sah vertrauensvoll zum Fenster, indem er liegend das Fernrohr vor seinen Augen in Stellung brachte.

„Ach, immer diese Seemannsgeschichten vom Onkel!“, seufzte die Mutter und verließ den Raum. Der Junge kuschelte sich gemütlich ins Kissen und schon bald schlief er ein.

- Es dauerte nicht lange, da schoben sich viele hell beleuchtete Hügel ins Blickfeld, auf denen Mädchen in bunten langen Kleidern leichtfüßig tanzten. Sie hüpften und sprangen und ließen sich vom Licht der Fröhlichkeit leiten. Auf den Schultern hinter dem Kopf trugen sie ein mit Stoff bespanntes hohes, silbergoldenes Rad, an deren Seiten blaugrüne Bänder befestigt waren und im Rhythmus der Bewegungen hin und her flatterten.
Im Tal der Berge fanden sich junge Männer und Frauen ein, die durch überschwängliches leichtes Antippen auf die Oberkörper ihre Zuneigung zu bekunden schienen. Daraufhin zeigten einige nach oben und sogleich tänzelten sie miteinander zu den Anderen in der Höhe. Auf ihren jungen Gesichtern erstrahlte eine unbeschwerte Freudigkeit.
Dann näherten sich aus dem Hintergrund der hellen Erhebungen noch mehr hüpfende Menschen, die in beiden Händen kleine violette leuchtende Kugel hielten. Sie sprangen und wiegten sich im gleißenden Licht und verwandelten mit ruckartigen Armbewegungen die violetten Kugeln in gelbe Vierecke. Alle, die sich bereits auf den Bergen befanden, strömten leichten Fußes herbei, um sich das schöne Spektakel anzusehen. Doch nicht genug, denn bei wechselnden kreisenden Bewegungen veränderten sich die gelben Vierecke in grüne Dreiecke, aus denen leuchtender Strahlensand zur Erde fiel und kleinste Hügel entstehen ließ.

Ein leises Raunen ging durch die Menge und jeder tippte seinem Nächsten an den Oberkörper, ein sichtbares Zeichen von höchster Begeisterung, denn sie erlebten das Entstehen ihrer geliebten Berge. Plötzlich schauten alle in eine Richtung und sahen golden glänzende Himmelsfäden auf sich zukommen, an deren Enden kleine Kinder hingen. Wie Marionetten wurden sie von einer unsichtbaren Hand vorsichtig hoch und runter gezogen. Ein wunderbarer Anblick für die staunende Menge, die inzwischen gar nicht mehr wusste, wo sie zuerst hinschauen sollte.


Während die Fröhlichkeit ihren Höhepunkt zu erreichen schien, drang von unten ein immer dunkler werdender Schatten ins Helle, stieg höher und höher, bis das goldene Licht hinter den Hügeln verschwand. -

Verwundert öffnete Jan seine Augen und fand sich wie immer im Bett liegen. Es war noch recht dunkel und er konnte nur ganz schwach die Umrisse der Möbel in seinem Zimmer erkennen. Aufgeregt vom Erlebten tastete er nach dem Fernrohr, das nach wie vor an derselben Stelle neben ihm lag. Irgendwie konnte er das alles nicht begreifen und rief daher laut und aufgeregt:
„Mama, Mama, komm schnell!“
Erschrocken stürmte die Mutter ins Zimmer:
„Was ist los! Hast du schlecht geträumt?“
„Nein, ich habe nicht schlecht geträumt. Ich war auf dem Stern der Fröhlichkeit!“, antwortete er mit fester Stimme und fiel ihr freudig um den Hals.

„Ich war wirklich dort, ganz ganz wirklich. Ich habe den Stern vom Onkel gefunden!“, versicherte er voller Überzeugung seiner skeptisch dreinblickenden Mutter.
„Ich glaube es dir!“, sagte sie und streichelte dem glücklichen Jungen über den Kopf.
„Aber trotzdem musst du jetzt weiter schlafen, denn es ist noch mitten in der Nacht“, flüsterte sie leise und zog fast lautlos die Tür hinter sich zu.

Tage vergingen und Jan sah oft erwartungsvoll aus dem Fenster, denn in diesem Monat sollte der Onkel von seiner langen Schiffsreise nach Hause kommen. Unbedingt wollte er als erster von seinem Sternenfund berichten.

Dann war es so weit. Mit einem lautem Klopfen kündigte sich dessen Ankunft an. Als er es hörte, fiel Jan beinahe vom Stuhl, eilte zur Tür, öffnete und ließ den Onkel mit seinem Seemannssack eintreten. Des Jungen Worte überschlugen sich vor Freude:
„Onkel, Onkel ich habe den Stern der Fröhlichkeit gefunden und war auch dort. So ganz ganz richtig!“
„Na, siehste, man muss nur lang genug durchs Fernrohr sehen, dann entdeckt man die dollsten Sachen!“, beteuerte der Heimgekehrte schmunzelnd und küsste Jan fest auf die Stirn.

© Heidrun Gemähling