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Erinnerungen eines Luftwaffenhelfers
an 1944 in Nordhorn


"... ein Feldweg führte in eine Heidelandschaft mit Erikapflanzen ..."

Heidrun Gemähling (Bearb.)

Aus Kanada erreichte mich folgender Bericht von Karl-Heinz Fricke, geb. 1928 in Salzgitter, aufgewachsen in Goslar, der im Jahre 1944 zur Flak eingezogen wurde und im Gut Klausheide in Nordhorn stationiert war. Nach Tätigkeiten im Erzbergwerk in Goslar wechselte er zur Zollverwaltung an die Zonengrenze. 1956 wanderte er mit seiner Familie nach Kanada aus und lebte in Winnipeg, Manitoba und Thompsen. Später zogen sie nach Fruitvale in den Britisch Kolumbian Rockies, wo er als Manager und Einkäufer bis zur Pensionierung arbeitete. Kunst und die Schriftstellerei gehören zu seinem Leben, außerdem wirkt er beim Radiosender „RADIO HERZ“ in Kanada mit.

Im Folgenden ein Auszug der Erinnerungen von Karl-Heinz Fricke:

... Am Abend des vierten Tages hielten wir an einem Bahnhof. Wir waren in der Stadt Nordhorn im Emsland und es hieß dort auszusteigen. Der Oktober war gerade angebrochen und es regnete in Strömen. Als die drei Geschütze endlich auf der Straße standen, wunderten wir uns, wo die Pferde blieben, um die Geschütze zu ziehen. Diese waren auf Lafetten festgezurrt, die Gummiräder hatten. Schließlich wurde der Befehl erteilt uns auf die Geschütze zu verteilen. Im Mannschaftszug schoben und zogen wir die Kanonen auf die Landstraße nach Nordosten. Nach etwa einer Stunde waren wir völlig durchnässt. Es ging nur langsam vorwärts und wir waren der Erschöpfung nahe. Wenn es jedoch heißt, du musst, dann geht es auch weiter. Nach weiteren zwei Stunden, nun nach Mitternacht, hieß es plötzlich: „Halt!“

An der rechten Straßenseite führte ein Feldweg in eine Heidelandschaft mit Erikapflanzen und vereinzelten Birken. Es kostete gewaltige Kraftanstrengungen die Geschütze auf dem verschlammten Weg vorwärts zu bewegen. Aber zu unserem Glück tauchten nach wenigen Minuten drei große Holzstapel vor uns auf und ein rechteckiges Wellblechgebäude. Das Gebäude, ein sogenannter Ottokoffer, war die Behausung des Leutnants und die drei Holzstapel waren Teile unserer Unterkünfte, die wir allerdings erst zusammensetzen mussten. Müde, nass und hungrig machten wir uns ans Werk. Zuerst schaufelten wir etwa 12 cm aus dem Erdreich kreisförmig ab und fügten die Teile der sogenannten Finnenzelte zusammen. An der anderen Seite der Straße war unser Tross auf der Domäne Klausheide untergebracht. Zwei Kameraden wurde befohlen, Stroh heranzuschaffen, das uns als Unterlage in den Zelten dienen sollte. Gegen vier Uhr morgens war es endlich soweit, dass wir uns in unseren nassen Uniformen hinlegen konnten und trotz aller Umstände vor Erschöpfung einschliefen. Es ist unglaublich, was ein junger Körper auszuhalten imstande ist.

Gegen 10 Uhr morgens wurden wir geweckt. Zu unserer großen Überraschung war das Grundwasser in die Ausschachtung gedrungen und wir lagen auf dem nassen Stroh. Für eine weitere Stunde schaufelten wir das entnommene Erdreich wieder auf den Boden der Zelte und neues Stroh wurde herangeschafft. Endlich gegen Mittag bekamen wir das erste warme Essen in Form von Suppe, auf der sogar ein paar Speckstückchen schwammen.

Normalerweise wurden die Flakgeschütze etwa einen Meter tief ins Erdreich gestellt. Das Grundwasser verhinderte solches Unterfangen jedoch, und der Leutnant entschied, zuerst einen Birkenzaun um jedes Geschütz zu bauen, und dann einen Erdwall dagegen zu schaufeln. Eine an sich gute Lösung. Der Umstand war jedoch der, dass wir aus Tarnungsgründen die Erde aus etwa hundert Meter Entfernung heranbringen mussten. Ein Bauernwagen mit Seitenwänden und einer langen Deichsel wurde uns von der Domäne zur Verfügung gestellt und die Pferde waren wieder wir.

Diese Aktion, das Erdreich heranzuschaffen war mit vielen Problemen verbunden, denn wir schmächtigen, immer hungrige Jungens hatten einfach nicht die Kraft, den beladenen Wagen durch den Schlamm zu bewegen. Neben der täglichen Suppe bekam ein jeder drei Schnitten Graubrot mit einem Klecks Margarine und etwas Leberwurst. An dieser Menüfolge änderte sich nichts. Am ersten Tag schafften wir sieben Fuhren, am zweiten Tage fünf und am dritten Tage nur vier. Es war nicht ermutigend, dass der Birkenzaun eines der Geschütze erst zu einem Drittel angeschaufelt war. Am vierten Tage desertierten drei Kameraden. Wir sahen sie nie wieder. Nun sah man ein, dass wir es unmöglich schaffen konnten, das restliche Erdreich für die Wälle heranzuschaffen, zumal es fast täglich regnete. Die Geschütze waren zwar feuerbereit, aber es herrschte Feuerverbot, weil ein getarnter naher Feldflughafen nicht preisgegeben werden durfte. Angeschossene feindliche Bomber, Rauchfahnen nach sich ziehend, hätten wir mit Leichtigkeit vom Himmel holen können. Am fünften Tage tauchte zu unserer Überraschung ein Trupp russischer Gefangener auf, der von einem Gefreiten aus Frankfurt bewacht wurde. Dieser, ein richtiger Dreikäsehoch hatte einen Flaum auf der Oberlippe. Sein Beutekarabiner überragte ihn um etliches. Er schien auch ein Spaßvogel zu sein. Wenn er nicht pfiff, sang er stets. Die Russen schienen ihn nicht für voll zu nehmen, wenn er herumkommandierte, und das sollte für einen Russen böse ausgehen.

Obwohl die Gefangenen auch nur eine ähnliche Verpflegung wie wir erhielten, schafften sie jedoch in den ersten Tagen das ihnen auferlegte Arbeitspensum und die Wälle begannen Form anzunehmen. Es hatte auch an einigen Tagen nicht geregnet und die Arbeit ging etwas flotter voran. Dann setzten plötzlich wieder heftige Regenfälle ein, und die Arbeit verlangsamte sich wieder. Als das Tagessoll an einem der Tage noch nicht erreicht worden war, weigerten sich die Russen weiter zu arbeiten. Der Gefreite fuchtelte mit seinem Karabiner drohend herum, aber die Russen rührten sich nicht. Als er den Wortführer der Zehn aufforderte die anderen zur Arbeit anzutreiben, gab dieser ihm einen Stoß vor die Brust und der Knirps saß im Dreck. Sekunden später fiel ein Schuss und der Russe brach tot zusammen. Aus dem Fenster der Wellblechbude brachte der Leutnant den tödlichen Kopfschuss an. Ein Soldat der deutschen Wehrmacht war tätlich angegriffen worden. Nun waren die restlichen Neun bereit, weiter zu arbeiten und schafften noch das vorgeschriebene Pensum.

Gegen Mitte November wurden zwei Holzbaracken angefahren, die die drei Finnenzelte ersetzten. Es war empfindlich nasskalt und einige Kameraden wurden ihre Erkältungen nicht los. Doppelstöckige Betten zimmerten wir uns aus Birkenstämmen. Strohlagen bildeten die Matratzen und Zeltplane das Bettlaken. Unangenehm war es jede zweite Nacht draußen Posten schieben zu müssen. Um im Bett warm zu werden, legten wir uns nackt unter die doppelt gefaltete Wolldecke und das nächtliche Aufstehen war nicht angenehm, da das Feuer im Eisenofen längst ausgegangen war.

Der Spinner sorgte wieder einmal für Aufregung, als er auf Posten in völliger Dunkelheit plötzlich wieder Schüsse abgab. Wir stürzten hinaus und dachten, die Amerikaner wären schon da. Er meldete dem Leutnant, dass er Geräusche gehört und dreimal gerufen habe. Als keine Antwort erfolgte, hätte er geschossen. Bei Tageslicht fanden wir die Ursache für die Geräusche. In einem nahen Busch hingen einige Stanniolstreifen, die feindliche Flugzeuge regelmäßig abwarfen, um den Funk zu stören. Ein anderer Kamerad erschoß eine streunende Kuh, die natürlich auch dem Warnruf keine Folge leistete. Wir beklagten immer die schwere Suppenkanne, die wir abwechselnd von der Domäne zur Stellung schleppen mussten. Ein Kamerad aus Braunschweig, namens Schmidt, erklärte, das mache ihm gar nichts aus und er erbot sich, die Suppe jeden Tag zu holen. Er war für ein Schlitzohr bekannt, aber wir dachten uns nichts weiter dabei und waren froh, die lästige Schlepperei nicht mehr machen zu müssen. Nach einigen Tagen fiel es auf, dass die Suppe immer dünner wurde und auch kein Speck mehr oben drauf schwamm. Als sich ein Kamerad beim Koch darüber beschwerte, war dieser sehr aufgebracht und beteuerte, dass den Suppen nach wie vor Margarine und Speck beigegeben würde.

Ein hässlicher Verdacht entstand. Sollte Schmidt etwa den Speck herunterlöffeln? Es musste Klarheit geschaffen werden. Der Weg zur Domäne führte an einem dichten Schlehenbusch vorbei. Da versteckten sich zwei Kameraden. Als Schmidt mit dem Suppenkübel ankam, setze er ihn vor dem Busch nieder, nahm den Deckel ab, zog einen Löffel aus der Tasche und fischte die Speckstücke heraus und verzehrte sie. Entsetzt schaute er auf die beiden Kameraden, die ihn auf frischer Tat erwischt hatten. Zuerst verprügelten sie ihn und dann musste er die Kanne weiter zur Stellung schleppen. Anschließend flog er im hohen Bogen in die Grube über die der Donnerbalken lag.

Ich konnte mein Glück nicht fassen, als es gegen Ende 1945 plötzlich hieß, dass alle Luftwaffenhelfer entweder entlassen oder von der Luftwaffe übernommen würden. Diejenigen Kameraden, deren Heimatort von den Feinden noch nicht eingenommen war, wurden nach Hause entlassen, und die anderen blieben als Flaksoldaten in der Stellung. Ich war genau an meinem Geburtstag, dem 2. Februar, zu Hause. Wie ich später erfuhr, wurden die in der Stellung verbliebenen Kameraden von den anrückenden Amerikanern völlig aufgerieben.

Bei der Entlassung wurde mir gesagt, ich würde in den nächsten Tagen den Stellungsbefehl für die Wehrmacht bekommen. Wiederum hatte ich gewaltiges Glück, dass man mich wahrscheinlich vergessen hatte, so sah ich Anfang Mai die amerikanischen Panzer anrollen. Die Stadtväter waren ihnen mit weißen Fahnen entgegengegangen, und so blieb meine tausendjährige schöne Heimatstadt Goslar von der Vernichtung verschont...

Dieser Bericht zeigt erneut, dass der Krieg auch in unserer Region jungen Soldaten das Leben zur Qual machte und sich solche gravierenden Erinnerungen nicht immer auslöschen lassen.

© Heidrun Gemähling