Not macht erfinderisch!


(2001)
veröffentlicht

Diese Worte zogen im und nach dem II.Weltkrieg durch alle Lande, auch hier in der Grafschaft Bentheim. In den Geschäften gab es so gut wie keine Waren, und die Versorgungslücken machten sich immer mehr bemerkbar. Es fehlte an allen Ecken und Enden, und so konnte der berühmte “Erfindergeist“, der fast in jedem zum Lebenserhalt schlummert, sich wiederbeleben, neu entfalten zum eigenen und dem Nutzen anderer.

Gelernte handwerkliche Fähigkeiten konnten hilfreich eingesetzt werden, um aus alten, verbrauchten und kaputten Gegenständen wieder einigermaßen brauchbare Dinge herzustellen. Der Tauschhandel entwickelte sich und hatte seinen Platz auch in der hiesigen Bevölkerung. Ältere Bürger sprechen mit Stolz, aber auch mit Seufzen über all die kuriosen Gebrauchsgegenstände, die den Alltag verschönern sollten oder auch nur der Notwendigkeit dienten.

Als Grafschafter Zeitzeugen mir über all die kriegsbedingten „Umwandlungen“ erzählten, konnten wir gemeinsam lachen und staunen über die Einfälle unterschiedlichster Art. Über einiges davon möchte ich nachfolgend berichten:
Alte, ausgediente und abgetragene Damenstrümpfe wurden über den ganzen Arm gezogen und mit der Schere rundum in lange Streifen geschnitten, dann als Knäuel aufgewickelt. Mit einer dicken Häkelnadel konnte man anschließend Bettvorleger anfertigen, mit einigem Geschick sogar mit bunten Mustern. Wurden sie im Laufe der Zeit unansehnlich, wusch man sie und gebrauchte sie noch als Matratzenschoner. Auch bei den damals noch gebräuchlichen Strohmatratzen mußte jedes Jahr die Füllung erneuert werden, und nicht selten stellte man fest, daß auch Mäuse dort Unterschlupf gefunden hatten. Die Bettwäsche wurde geflickt und geflickt, fein säuberlich, bis die Nähte anfingen zu reißen, und erst dann schnitt man daraus Putzlappen. Selbstgenähte Kleider, die nicht immer so gelungen waren, wie man es sich vorgestellt hatte, trug man trotzdem ohne Murren, denn ein neues Kleid in den Kriegswirren war für jede Frau eine Freude und ein kleiner Lichtblick in der trostlosen Zeit. Natürlich gab es auch erstklassige Schneiderinnen in der Grafschaft , deren Fertigkeiten sehr geschätzt wurden. Jeder half sich eben so, wie er es verstand und konnte.


Wochentags, so erzählte mir eine alte Dame, trugen wir Holzschuhe und nur sonntags oder zu anderen Festlichkeiten Lederschuhe, die man bei Bedarf selbst besohlte. Eine Müllabfuhr im heutigen Sinn gab es fast nicht, und so wurde auch alles, was irgendwie brennbar war oder nur danach aussah, im Ofen verfeuert. Es zischte, stank und qualmte in allen Tönen und Gerüchen, aber es wurde warm und der Müll war beseitigt.


Wer beim Bäcker Brot kaufte, bekam einen schmalen Bogen Papier mit zum Einwickeln, vielleicht auch manchmal zum Schutz vor den entstehenden Löchern durch Kinderhand. Der Bogen wurde zu Hause natürlich nicht weggeworfen, sondern zum Einwickeln der Schul- und Arbeitsbrote verwendet. Handwerklich geschickte Männer stellten aus den Schwanzhaaren der Pferde Bürsten, Besen, Handfeger und Spinnjäger her. Vor dem Haus oder Hof wurden dafür die Roßhaare über Feuer in einem Waschkessel ausgekocht, wobei sich fürchterlicher Gestank entwickelte, anschließend wurden sie ausgekämmt, glattgestrichen und auf die gewünschte Länge zugeschnitten. Die Kinder mußten auch mithelfen und dem Vater die Borsten ranreichen, der sie dann mit einer Pinzette fachgerecht durch vorgebohrte Löcher in entsprechend geformte Holzbretter zog. Obendrauf kam noch ein Schutzholz, das oft auch noch bunt bemalt wurde, und fertig war ein Besen. Im Tausch gegen 3 Pfund Zucker wechselte er anschließend den Besitzer.

Strickjacken, die zu klein geworden waren, verwandelte man in Neue, indem man sie auf-rebbelte, die Wolle dann noch naß vom Waschen auf Besenstiele zum Aushängen und Trocknen spannte. So verzierten diese „Kunstobjekte“ manchen Haushalt und gaben dem Wohnen eine besondere Note von feuchtem Duft und Gemütlichkeit.

Es kam auch vor, daß von einem abgestürzten englischen Flugzeug so mancherlei gebrauchsfähige Utensilien ihre Verwendung fanden, natürlich ohne Erlaubnis der Obrigkeit. So bekamen Kochtöpfe wieder Henkel, und Deckel ihren Anfaßknopf durch geschickte Handwerkerhände. Auch gefundene Granathülsen wurden beim Klempner zu heißbegehrten Wärmflaschen umfunktioniert im Tausch gegen Butter, Speck, Eier usw.

Aus Pferdedecken fertigte man Mäntel, Jacken und Hosen und färbte sie auch manchmal. Militärmäntel wurden komplett aufgetrennt, gewendet und neu gestaltet wieder zusammengenäht zum zivilen Gebrauch.

Das Abwaschwasser vom täglichen Geschirr sammelte man im Eimer und tränkte damit das Vieh, damit das Wasser und jeglicher Rest von Nährstoffen nicht unnütz vergeudet wurden, denn Wasser mußte jedesmal vom Außenbrunnen geholt werden.

Beim Durchstöbern von alten Häusern, Dachböden, Schränken, Sperrmüll, Haushaltsauflösungen, Flohmärkten usw. fielen mir so manche kuriose Dinge unterschiedlichster Art in die Hände. Der Umwandlungsgeist, Unbrauchbares in Brauchbares zu verändern, fand des öfteren meine Begeisterung, denn ich erkannte, daß Menschen immer wieder das Bestreben haben, das Alltagsleben und das Wirken innerhalb der Familie zu erleichtern, zu verschönern, zu verändern trotz Zeiten der Not. So fielen mir eines Tages buntbemalte Metallknöpfe ins Auge und ich konnte sie bei genauerem Betrachten als ausgediente Militärknöpfe entlarven. Welch eine gute und sinnvolle Idee zur Beseitigung von Kriegsspuren.


Es mag in jedem Haushalt individuell und anders ausgesehen haben, aber die Kriegsnot machte nirgends Halt, und vielleicht erinnert sich so mancher an dieses und jenes, an Gutes und Schlechtes. In die Zeit vor ca. 50 Jahren kann sich die jüngere Generation kaum hineindenken, weil die „Überfluß- und Wegwerfgesellschaft“ das Gefühl dafür nicht vermitteln kann. Früher wurde fast nichts weggeworfen, alles wurde aufgehoben für irgendwann, und darum können die jungen Leute oft ihre Eltern, Oma und Opa nicht so recht verstehen, die immer noch alles in Kistchen und Schubladen aufbewahren.


Da die Stufen der Zeit sich im ständigen Wandel und Wechsel befinden, nichts bleibend ist, Unvorhergesehenes plötzlich eintreten und alles verändern kann, ist es sicherlich für alle von Vorteil, sich von älteren Personen erzählen zu lassen, wie sie in Notsituationen ihr Leben gemeistert haben. Kriege werden durch Habgier und Machtstreben geschürt und ausgelöst, ein großes Übel im Zeitgeschehen mit verheerenden Einschnitten in das Dasein eines jeden, mörderisch, zerstörend, trennend und leidbringend in menschenverachtender Weise. Den davon Betroffenen bleibt nur der Kampf ums Überleben und die Not, die erfinderisch macht.

© Heidrun Gemähling